Nr. 125: Soll der Mensch gefügig sein? (1,2/9)

Liebe Leserin, lieber Leser,

 

wer kennt nicht das Erziehungsratgeberbuch „Struwwelpeter“ von Dr. Heinrich Hoffmann (1809-1894), geschrieben 1844. Seitdem amüsiert es den Leser ebenso, wie es ihn entsetzt. Das Amüsement ergibt sich aus den naiv-raffinierten Reimen in Verbindung mit den anschaulichen Zeichnungen; das Entsetzen aus einem pädagogischen Erziehungsanspruch, dem man wohl als bevormundend bis brutal bezeichnen darf. Erziehung war damals Ausbildung, nicht Bildung des Charakters.

 

Dennoch ist es zeitlose Literatur und vermittelt das Gesellschaftsbild in der Zeit des Vormärz, also vor der deutschen Revolution 1848/49.  Der Abstand zu unseren pädagogischen Standards ist gewaltig. Deshalb gibt es zahlreiche Parodien und Neudichtungen des Textes. Jetzt auch von mir.

 

Die „Abnormitäten“ der Kinder im „Struwwelpeter“ spiegeln sich im Verhalten meiner "modernen" Charaktere. So gesehen ist das Thema von Heinrich Hoffmann auch heute noch hochaktuell.

 

Meine Runderneuerungen werden in unregelmäßiger Folge im Blog des Lyrikjoint erscheinen. Los geht es heute mit der Einführung. Ich wünsche Ihnen gute Unterhaltung.

 

 

Folge 1: Einführung

 

 

Der Struwwelpeter
von Dr. Heinrich Hoffmann

 

Wenn die Kinder artig sind,

Kommt zu ihnen das Christkind;

 

Wenn sie ihre Suppe essen

Und das Brot auch nicht vergessen,

 

Wenn sie, ohne Lärm zu machen,

Still sind bei den Siebensachen,

 

Beim Spaziergehn auf den Gassen

Von Mama sich führen lassen,

 

Bringt es ihnen Gut's genug

Und ein schönes Bilderbuch.

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© Struwwelpeter Museum

 

Seht einmal, hier steht er.

 

Pfui! der Struwwelpeter!

 

An den Händen beiden

 

Ließ er sich nicht schneiden

 

Seine Nägel fast ein Jahr;

 

Kämmen ließ er nicht sein Haar.

 

Pfui! ruft da ein jeder:

 

Garst'ger Struwwelpeter.

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 Nächste Folge: Der böse Friederich

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Der Struwwelpeter

Neugedichtet von Rainer Sliepen

 

Soll der Mensch gefügig sein?

Alles glauben, niemals fragen?

Keine neuen Wege wagen?

Immer sich des Daseins freu´n?

 

Brav für seine Lieben schaffen?

Seinen Wohlstand stets vermehren?

Seine Vorgesetzten ehren?

Nie nach fremden Weibern gaffen?

 

Oder soll er Flagge zeigen?

Seine Meinung kühn vertreten?

Reden, auch wenn es ist nicht erbeten?

Und kein Unrecht je verschweigen?

 

Jeder Mensch seh´, was ihm tauge.

Niemals kann man allen raten.

Doch bedenk´ stets deine Taten.

Nie entgehst du Gottes Auge.

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Seht einmal, hier steht er.

 

Typischer Vertreter

 

der modernen Zeit.

 

Dumm und auch gescheid.

 

Hin- und hergerissen.

 

Fragt nicht sein Gewissen.

 

Fähnchen hängt im Wind.

 

Garst´ges Menschenkind.

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