Nr. 149: ...schaudernd gellt ein wirrer Jubel

 

Liebe Leserin, lieber Leser,

 

werden unsere Innenstädte den Corona-Schock überwinden? Schon vor der Pandemie litten die Einkaufsbezirke unter dramatischer Auszehrung. Dabei ist noch nicht einmal der Verlust von Verkaufsflächen das Schlimmste, sondern die Senkung des Qualitätsniveaus der angebotenen Waren. Aus der Sicht der ihr Risiko minimierenden Händler verständlich, aus Sicht der Kundschaft ein weiteres Alarmsignal. Statt abwechslungsreicher Angebotsstruktur mit hoher Qualität, schießen Billigangebote wie Giftpilze aus der feuchten Herbsterde.

 

Mit der Verwahrlosung der Cities verschiebt sich die Zusammensetzung des Publikums in Richtung einkommensschwacher Schichten weiter. Der Preis, nicht die Qualität ist der einzige Maßstab des Verkaufserfolgs. Das setzt eine Abwärtsspirale in Gang, die die Bemühungen der Verwaltungen, Innenstädte zum Ort hochwertiger Einkaufserlebnissen zu verwandeln, den Todesstoß versetzt.

 

Der Zug ist abgefahren. Die roten Lichter verschwimmen im Dunkel. Dennoch, folgen Sie des Dichters Einladung in eine einstmals lebendige Stätte des Handels und der Kommunikation. Auch der Verfall ist eine ästhetische Kategorie.

 

 

Einladung*

 

Komm in die totgesagte Stadt.

Das Elend grinst durch blindes Glas

und letzte Buntheit blinzelt schief und matt.

Du ahnst die Steppe schon und Gras,

wo Geier zanken um verfaultes Aas.

 

Noch schleppt sich´s suchend durch Ruinen.

Zerquält die Stirn. Angstvoll verzerrt die Mienen.

Und doch dreht sich der wüste Trubel.

Ein Tanz ums Kalb, das längst geschlachtet.

Doch Hirn und Sinne sind umnachtet

und schaudernd gellt ein wirrer Jubel.

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*Nach Stefan George (1868-1933): „Komm in den totgesagten Park“