Eugen Onegin ist ab jetzt ein Hannoveraner

 

Die Staatsoper brilliert mit neuer Sicht auf einen Klassiker

 

31. Mai 2022, von Rainer Sliepen

Immer unter Beobachtung: Barno Ismatullaeva als Tatjana                                 Foto Staatsoper Hannover

Eine konsequent gegen die Erwartungen des Publikums inszenierte Aufführung des Eugen Onegin von Peter Tschaikowski hatte jetzt in der Staatsoper Hannover Premiere. Die Regisseurin Barbora Horáková ging durchaus ein Risiko ein, die Geschichte um den Adligen Eugen Onegin, seinen Freund Lenski und die schö-ne Nachbarstocher Tatjana als eine Story wie von nebenan zu inszenieren. Keine kostbaren Abend-toiletten, keine eleganten Herren im Frack und vor allem kein Ausstattungs-pomp. Sogar Tschaikowskis hochherrschaftliche Polo-naise übersteht ihre Verbür-gerlichung unbeschadet. Der Salon des Gutsnachbarn hat den Charme einer riesigen Betriebskantine, in der es sich denn auch das Personal aus der Umgebung gut gehen lässt.

 

Das Gewusele auf der Bühne vollzieht sich wie dem Leben abgelauscht. Skepsis löste sich mit dem Fortgang der Oper zu einer über-schwänglichen Begeisterung, wie der Schlussapplaus zei-gen sollte. Hinzu kam, dass das Ensemble auf der Bühne wie im Orchestergraben einen Sahnetag erwischt hatte, nicht zuletzt das Ver-dienst des schwungvoll und extrovertiert leitenden James Hendry. Die Geschichte ist destilliert aus dem Vers-roman des Russen Alexander Puschkin. Lenski und Olga sind verlobt. Olgas Schwes-ter Tatjana verliebt sich unsterblich in Lenskis Freund Onegin. Von Gefühlen für den Dandy aus der Stadt überwältigt, offenbart sie sich diesem über Nacht in einem

Brief. Doch der weist sie ab - aus Gefühlskälte, Überdruss am Leben. In der Briefszene, von Tschaikowski mit großer Sensibilität vertont, ringt Tatjana um ihr Lebensglück. Schließlich ergreift sie die Initiative.  Für die damalige Gesellschaft ein unerhörter Vorgang. Frauen hatten in stiller Ergebung abzuwarten. Tschaikowski führt sein Publikum mit einer funkelnden, vor Erregung vibrierenden Musik durch alle Seelenregungen Tatjanas, ihre Zweifel, ihre Angst, aber dann doch schließlich bis zum überschwänglichen Ju-bel, das Richtige zu tun. Barno Ismatullaeva läuft hier sängerisch und in der Aktion zu großer Form auf. Und zum Höhepunkt ihrer Selbst-analyse weitet sich der triste Saal in die Welt und in die Natur. Ein traumhafter Regie-einfall.

 

Konsequent bleibt die Insze-nierung bei den gesellschaft-lichen Regelverstößen. Len-skis Duellforderung an Onegin wegen verletztem Stolz, sonst ein hoch-ritualisierter Vorgang, endet in einer Prügelei und auch das Duell selbst, in dem Lenski stirbt, ist eher dem Zufall geschuldet, als ein Ergebnis eines minutiös ein-gehaltenen Ehrencodexes. Die eigentliche Tragik der Oper ist identisch mit der Tragik seines Schöpfers. Tschaikowski war homo-sexuell. Die offizielle Ver-achtung der Gesellschaft wäre ihm bei Bekanntwerden sicher gewesen. Deshalb hatte er wohl auch die literarische Vorlage Pusch-kins gewählt. Seiner Haupt-figur und ihm selbst fehlte die Kraft zur Überwindung der

gesellschaftlichen Konven-tion. Als Jahre später Onegin Tatjana, inzwischen mit dem Fürsten Gremin  verheiratet, seine Liebe gesteht, ist von der jugendlichen Kraft, ihren Weg zu gehen, nichts mehr geblieben. Zwei Liebende, die nicht zueinander können und ein Komponist, der ihre und auch seine Tragik mit wunderbarer wissender Mu-sik kommentiert.

 

Der Abend beeindruckt mit großer Wandlungsfähigkeit seiner Schlüsselfiguren. James Newby durchlebt den Absturz seiner strahlend po-tenten Männlichkeit bis zu dem auch physisch ver-nichteten Menschen Onegin. Barno Ismatullaeva als Tatjana geht den rückwär-tigen Weg von liebevollem Überschwang zur Kälte einer gesellschaftlichen Grande Dame. Pavel Valuzhin singt einen jugendlich enthusiasti-schen Lenski, der an seinen Idealen zugrunde geht. Ruzana Grigorian als Olga ist ein im besten Sinn flatter-haftes junges Mädchen mit reizendem Ausdruck. Und Shavleg Armasi als Fürst Gremin nutzt seine Arie zu einer souveränen Demon-stration des Belcanto. Die Oper als Illusionstheater. An diesem Abend spannungs-volle Realität. Nicht zuletzt ein Verdienst des großartigen Orchesters, das Seelen-zustände transparent machte und sensibel kommentierte. Überzeugend agierte der Chor mit einer selten erlebten Spielfreude. Applaus für einen Hannoveraner Onegin der Sonderklasse.