Ein außergewöhnliches Opernereignis
Lucia di Lammermoor begeistert das Publikum im Scharoun Theater
14. Mai 2022, von Rainer Sliepen
Ein großer Opernmoment: Das Ende der Titelheldin Lucia Foto: Osnabrücker Theater
Man mag sich noch so sehr dagegen sträuben: Die größten Meisterwerke in der Kunst sind durch die Schil-derung des Bösen entstan-den. Schriftsteller und Kom-ponisten laufen hier regel-mäßig zur Höchstform auf. Gaetano Donizettis Oper „Lucia di Lammermoor“, jetzt zu sehen und zu hören im Scharoun Theater, ist da ein Paradebeispiel. Beim fulmi-nanten Gastspiel der Osna-brücker Operntruppe mit ihrem Symphonieorchester standen die verabscheuungs-würdigsten menschlichen Eigenschaften im Mittelpunkt. Diese treten umso mehr hervor, als sie von der reinsten Unschuld, der Titel-heldin Lucia, kontrastiert werden. Ein dramaturgisch höchst wirksamer Trick.
Für diese Melange von menschlicher Verkommenheit und höchster Tugend hat
Donizetti seine bezaubernd-sten Melodien erfunden, ohne an psychologischer Charakterisierungskunst ein-zubüßen. Dieser Haupt-vorwurf der Kritiker des Belcantos ist durch Auffüh-rungen wie diese längst entkräftet. Auch die Osna-brücker Inszenierung des schottländisch düsteren Schauerstücks auf der Grundlage des Romans von Walter Scott bewegt sich auf dem Grundgedanken der Ge-genüberstellung von Gegen-sätzen. Hier die düstere Welt eines zum Untergang verur-teilten Hochland-Clans, da die Atmosphäre von Liebe, Leidenschaft und Entsagung.
Worum geht es? Es ist wie bei Shakespeare. Zwei verfeindete Familien. Die eine hat die andere ver-nichtet. Und der einzig verbliebene Spross Edgardo liebt die Tochter Lucia seiner Todfeinde. Eine ausweglose
Situation, die noch durch die gefährdete Existenz des Lucia-Bruders Enrico ver-schärft wird. Nur die Heirat mit dem reichen Lord Arturo Bucklaw verspricht Rettung. Eine Intrige muss her. Lucia soll glauben, Edgardo habe sie betrogen. Es gelingt. Doch um welchen Preis! Lucia tötet in der Hochzeits-nacht ihren Zwangsgatten und wird wahnsinnig. Enricos Plan scheitert auf der ganzen Linie. Und am Schluss ent-leibt sich der um sein Lebensglück betrogene Edgardo.
Ein Schurkenstück mit vielen Opfern. Und doch eine anrührende Menschendar-stellung mit vielen Nuancen, Abschattungen und differen-ziertester Darstellungskunst. Die Bühne bleibt schwarz und leer. Über ihr schwebt ein riesiger rechteckiger Spiegel. Den Boden deckt ein flaches Wasserbassin. Eine Metapher für den unsicheren Grund menschlicher Exis-tenz? Eben da treffen sich heimlich Edgardo und Lucia und versprechen sich die Ehe. Und dann, welch kluger Regieeinfall: Lucia ist kein Engel, sondern verführt in einer erotisch realistischen Szene, die auch Voyeure befriedigt, ihren Edgardo. Dann die Intrige der Hof-gesellschaft und die wahrhaft suggestive Szene des Mordes und Lucias Tod.
Die Bandbreite der in allen Farben schillernden Musik, mit großem Engagement gestaltet von Andreas Hotz, reicht von subtilster Klang-magie bis zur Entladung ge-waltiger musikalischer Ener-gien, die bis zum Finale ihre volle Wirkung behalten. Sophia Theodorides ist als Lucia ein seltener Glücksfall. In der Seligkeit mit akro-batischen Koloraturen
brillierend und in der Verzwei-flung menschlich anrührend mit fahler Tongebung und Todesgestik. Ihre schaurig schöne Wahnsinnsarie, ein schwebendes Duett mit der Glasharmonika, ist wohl eine der glücklichsten Eingebun-gen der gesamten Opern-literatur.
Das niedersächsische En-semble um sie herum glänzt mit einer geradezu selbst-verständlichen italianità, dem Ausdruck italienischer Musik-kultur, so, wie James Edgar Knight als Arturo Bucklaw. Ein selbstbewusster Latin lover mit strahlend hinge-schmetterter Tongebung. Rhys Jenkins überzeugt als Enrico mit stimmlicher Varia-bilität und kraftvoller Schwär-ze. Oreste Cosimo als Edgardo führt seinen Tenor ausgewogen und schön timbriert durch Freud und Leid. Und Aljoscha Lennart als Schurke Normanno ist mit seinem wendigen Tenor ein Prototyp des brutalen Spöt-ters. Nicht zuletzt gibt Erik Rousi als korrupter Priester das Abbild eines leichtfertig sich mit der Macht ver-bindenden Seelenhirten. Der Chor singt inspiriert mit wuchtigem Einsatz, mal in der Tradition des Weber-schen Jägerchors und dann die Tragödie lakonisch kom-mentierend, wie in der grie-chischen Antike. Ein außer-gewöhnliches Opernereignis. Langer Beifall des Publikums auch für das grandios aufspielende Orchester im übersichtlich besuchten Scharoun Theater.
Und hier Ausschnitte aus der Aufführung