Liebe Leserin, lieber Leser,
heute also das fünfte Gedicht aus meiner Struwwelpeter-Parodie. Vorlage ist die Geschichte vom Zappel-Philipp. Warum der Vater seinen Sohn in Heinrich Hoffmanns dramatisch endender Familienszene so drangsaliert und die Mutter stumm dabeisitzt, kann ich nur vermuten.
Glasklar ist dagegen, warum meine in die Neuzeit versetzte Fassung so endet, wie Sie das gleich lesen werden.
Und deshalb meine Botschaft: Der „Struwwelpeter“ eignet sich nicht, mit Arroganz auf frühere Elterngenerationen herabzublicken. Wir machen unsere eigenen Fehler. Und die sind womöglich unentschuldbarer, als die an einem autoritären Zeitverständnis orientierten Verhaltensweisen von Menschen, die es - anders als wir - nicht besser wussten.
Heinrich Hoffmann: Die Geschichte
vom Zappel-Philipp
»Ob der Philipp heute still
wohl bei Tische sitzen will?«
Also sprach in ernstem Ton
der Papa zu seinem Sohn,
und die Mutter blickte stumm
auf dem ganzen Tisch herum.
Doch der Philipp hörte nicht,
was zu ihm der Vater spricht.
Er gaukelt
und schaukelt,
er trappelt
und zappelt
auf dem Stuhle hin und her.
»Philipp, das missfällt mir sehr!«
Seht, ihr lieben Kinder, seht,
wie’s dem Philipp weiter geht!
Oben steht es auf dem Bild.
Seht! Er schaukelt gar zu wild,
bis der Stuhl nach hinten fällt.
Da ist nichts mehr, was ihn hält.
Nach dem Tischtuch greift er, schreit.
Doch was hilft’s? Zu gleicher Zeit
fallen Teller, Flasch und Brot.
Vater ist in großer Not,
und die Mutter blicket stumm
auf dem ganzen Tisch herum.
Nun ist Philipp ganz versteckt,
und der Tisch ist abgedeckt.
Was der Vater essen wollt’,
unten auf der Erde rollt.
Suppe, Brot und alle Bissen,
alles ist herabgerissen.
Suppenschüssel ist entzwei,
und die Eltern stehn dabei.
Beide sind gar zornig sehr,
haben nichts zu essen mehr.
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Rainer Sliepen: Die Geschichte
von den zappeligen Eltern
Knaben wollen immer toben.
Im Streite ihre Kraft erproben.
Heute scheint das ein Problem.
Nicht anders war es ehedem.
Philipp ist wie alle Buben.
Es hält ihn selten in der Stuben.
Muss er artig sein beim Essen,
ist Vaters Mahnung schnell vergessen.
Er flattert
und schnattert,
er wippt
und kippt
auf dem Stuhle hin und her.
„Philipp, das missfällt uns sehr!“
Warum fühlt man sich denn geplagt?
Er spricht, auch wenn er nicht gefragt.
Er isst nicht alles, was er soll.
Beim Reden ist der Mund stets voll.
Das Handy hat er stets im Blick,
bereit für einen schnellen Klick.
Er steht mal auf, mal bleibt er sitzen.
Und heimlich kaut er auf Lakritzen.
Will süßen Saft, statt klarem Wasser…
So werden Eltern schnell zum Hasser.
Und deshalb schreien sie voll Zorn:
Du bist im Auge uns ein Dorn.
Woher kommt diese Ungeduld?
Der Eltern Lebensplan ist daran schuld.
Das Kind ist viel zu spät gezeugt.
Man hat dem Wohlstand sich gebeugt.
Erst war ein neues Häuschen dran.
Karriere machte dann der Mann.
Ein dickes Auto musste her.
Auch Mutter schuftet´ dafür schwer.
Dann wurd´ für Urlaub sich geplagt.
Müd´ war´n sie nach der Wohlstandsjagd.
Das Resultat: Die guten Eltern sind
viel zu alt für dieses Kind.
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