Nr. 154: Hei, da schreit der Kranke sehr (6/9)

 

Liebe Leserin, lieber Leser,

 

können Sie sich gedanklich auch nur schwer von der Pandemie freimachen? Mir geht es so. Auch im Lyrikjoint komme ich immer wieder auf dieses Thema zurück. Nun also wieder ein Corona-Gedicht. Angeregt vom Struwwelpeter-Autor Heinrich Hoffmann und seiner Moritat vom „Daumenlutscher“.

 

Die Grundkonstellation beider Fassungen ist gleich, wenn auch Hoffmanns „Konrad“ seine Jugend als Entschuldigung für seine „Unbotmäßigkeit“ anführen kann.

 

Das können die Corona-Leugner meines Gedichtes nicht. Sie sind verbohrte, verstockte Erwachsene. Da zählt dann letztlich wie beim Konrad das schöne alte deutsche Sprichwort: „Wer nicht hören will, der muss fühlen“.

 

Heinrich Hoffmann: Die Geschichte vom Daumenlutscher

 

„Konrad!“ sprach die Frau Mamma,

„ich geh aus und du bleibst da.

Sei hübsch ordentlich und fromm.

bis nach Hause ich wieder komm.

Und vor allem, Konrad, hör!

lutsche nicht am Daumen mehr;

denn der Schneider mit der Scher

kommt sonst ganz geschwind daher,

und die Daumen schneidet er

ab, als ob Papier es wär.“

Fort geht nun die Mutter und

wupp! den Daumen in den Mund.

 

Bauz! Da geht die Türe auf,

und herein in schnellem Lauf

springt der Schneider in die Stub

zu dem Daumen-Lutscher-Bub.

Weh! Jetzt geht es klipp und klapp

mit der Scher’ die Daumen ab,

mit der großen scharfen Scher’!

Hei! Da schreit der Konrad sehr.

Als die Mutter kommt nach Haus,

sieht der Konrad traurig aus.

Ohne Daumen steht er dort,

die sind alle beide fort.

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Rainer Sliepen: Die Geschichte

vom gebrochenen Schwur

 

„Bürger“, sprach die Kanzlerin,

„ihr habt Herz und klaren Sinn.

Seid verständig, lieb und nett,

folgt der Seuchen-Etikette.

Und vor allem, Bürger, hört!

Wer vernünftig ist, der schwört:

Händewaschen, Masken tragen.

Sonst kommt das Organversagen.

Luft bleibt weg und Herzchen bricht.

Und das woll´n wir alle nicht.“

Kaum hat die Kanzlerin geend`,

nicht einer sich zum Schwur bekennt.

 

Ratsch! Schon ist die Maske fort.

Vergessen ist das Ehrenwort.

Das Virus springt zur Tür herein.

Nistet sich im Rachen ein.

Weh! Jetzt geht´s an die Substanz.

Schon beginnt der Todestanz.

Lunge schmerzt. Der Kopf will platzen.

Gesichter verzerren sich zu Fratzen.

Hei! Da schreit der Kranke sehr.

Die Beatmung hilft nicht mehr.

Särge werden nun gebraucht.

Dieweil der Tod sein Pfeifchen schmaucht.

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