Nr. 177: Ein fernes Heulen, zornig, wild...

Liebe Leserin, lieber Leser,

 

heute lesen Sie eine Ballade. Aus fernen märchenhaften Zeiten? Als Könige herrschten, der Adel seine Privilegien genoss, das Volk schwieg, arbeitete oder jubelte?

 

Fragen über Fragen. Vielleicht kommt Ihnen beim Lesen eine Idee. Vielleicht haben Sie eine Vermutung, einen Verdacht. Was ist das für ein Geheimnis um die Bestie? Lassen Sie sich nicht irre machen.

 

 

Die Bestie – Eine Ballade

 

Vor langen Zeiten war´s, als die Gefahr

gebannt erschien. Es herrschte endlich Frieden.

Die Bestie war gezähmt. Trompetenstolz

verkündeten´s die Herolde als Order

ihres Königs. Aufatmen überall.

 

Gelegt in gold´ne Ketten hat man sie.

Sie fühlte sich geschmeichelt, fügte sich.

Ein Geben war´s fortan und Nehmen.

Die Kinder neckten sie. Die Angst war fort.

Kein Schatten trübte die Gemüter.

 

Auf prächt´ge Wagen lud man sie,

damit das ganze Reich sich konnt´ ergötzen.

Wie allerliebst auch war ihr Spiel, so tapsig,

schnurrend freundlich und streichelweich das Fell.

So sanft der Blick aus dunkelschwarzen Augen.

 

Wo vordem Unruh´ herrschte, Zagen, Bangen,

da schaut das Volk mit Frohsinn in die Welt.

Doch hör: Ist da ein Grollen? Dumpf gepresst

wie aus den tiefsten Tiefen? Ein Spuk, nicht mehr!

Befriedet ist das Reich samt seiner Bürger.

 

So auch der Adel, vom  Könige beauftragt,

die Bestie mit Sorgfalt zu verwahren.

Man nährte sie des Nachts mit blut´gem Fleisch.

Doch welch´ Bestürzung packte die Bewacher,

als Sanftheit sich zur Bosheit wandelt.

 

Sie fauchte schlangengleich, geduckt zum Sprung.

Und in den Augen gelbes hasserfülltes

Flackern, mordlüsternd, tückisch, hinterhältig.

Die spitzig scharfen Krallen nicht mehr verdeckt

vom kuschlig weichen Fell. Und dann der Rachen.

 

Die messerscharfen Zähne tief drunten

im gefräß´gen Schlund. Das Spiel der Muskeln

wie die zum Todesschuss gespannte Waffe.

War dieses wirklich der besiegte Feind?

War es nur Selbstbetrug, ein Wunsch von Allen?

 

Und dann noch das: Ein Grauen packt die Wärter.

Des Morgens waren´s zweie, und so fort.

Sie mehrten sich, die Bestien. Vorm tumben Volk,

dem Schauspiel mählich müde, verberg man

das Entsetzen, so lautete die Order.

 

Schnell einberufen ward der Rat der Großen.

Da gellen Schreie durch den Saal: Nur weg

von den Palästen, Burgen, Schlössern.

Hinweg die Bestien, hinweg, hinweg!

Nicht einer hebt die Hand, dem Spruch zu wehren.

 

Des Nachts, geheim, versammeln sich die Edlen.

Geschehen soll´s beim bleichen Schein der Fackeln.

Gerüstet hoch mit Schwert und Speer, mit Stangen,

Ketten, Eisen, treibt man die Bestien heimlich fort.

Nah bei den Armen soll´n sie fortan hausen.

 

In Höhlen tief versteckt im Berg, vergittert

und vergraben, hat man sie eingemauert.

Vergessen hat das Volk sie längst. Und doch,

in stillen Nächten, mondesklar,

hört man ein fernes Heulen, zornig, wild…

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