Nr. 218: Grinst Mona Lisa?

 

Liebe Leserin, lieber Leser,

 

zwei deutsche Sportlerinnen, Kristin Pudenz und Claudine Vita, die bei den Münchner Europameisterschaften 2022 im Diskus Silber und Bronze gewonnen haben, präsentieren sich überglücklich im ZDF-Interview. „Das Dauergrinsen weicht ja kaum aus Ihren Gesichtern“ stellt Reporter Norbert König routiniert fest.

 

„Dauergrinsen?“ Was uns abhanden kommt, ist das Sprachgefühl, laut Wikipedia das intuitive, unreflektierte und unbewusste Erkennen dessen, was sprachlich als korrekt oder aber als falsch bzw. unangemessen empfunden wird

 

Diese Fähigkeit ist eng mit der veröffentlichten Sprache verbunden. Nun werden in unserer Gesellschaft allgemein gültige Maßstäbe und Regeln kaum noch akzeptiert. Der Tabubruch ist die neue Regel. Hinzu kommt, dass anspruchsvolle Literatur mit einer prägenden Verbindlichkeit auf dem Rückzug ist, ersetzt durch die Yellow Press und das Gestammele in den sozialen Netzwerke.

 

Die Folge: Das Gefühl für die korrekte Verwendung von Wörtern ist verloren gegangen. Tragisch, weil gerade die deutsche Sprache in ihrer Wortbedeutung und -verwendung als hochpräzise gilt. Höchste Zeit also für das folgende Lehrgedicht.

 

 

Lehrgedicht 3 für alle, die es angeht*

Wer grinst, wer lächelt da?

 

Ist`s einerlei, wie man beschreibt das Glück

der Mutter, die grad gestillt ihr Töchterlein?

Den Stolz des Sportlers, der gesiegt im Kampf?

Den Gaunerblick, den unverschämten,

 

sei er von Kanzlern oder Kriminellen,

die sich des eigenen Vorteils rühmen,

den sie erlangt auf Kosten ihres Nächsten?

Sie alle lächeln oder grinsen sie?

 

Ist nicht das Lächeln Ausdruck guten Willens,

der Freude, des Zustands inn`rer Harmonie,

um Freunde zu erwerben, um Fröhlichkeit

zu übertragen, Wärme, Sympathie?

 

Und steht das Grinsen nicht für Dümmlichkeit,

sich zu erheben bauernschlau und böse

über Andere? Wer grinst ist, schadenfroh,

ist hinterhältig, ist ironisch, zynisch.

 

Ganoven grinsen. Grinst Mona Lisa?

Nein, sie lächelt. Gibt es ein „Babygrinsen“?

Der flücht`ge Ausdruck im Gesicht des Kindes,

der uns mit Charme und Anmut stets verführt?

 

Nein, das junge Menschenkind, es lächelt.

Und zeigt uns so, den Illusionsverlornen,

den Blick in das verspielte Paradies.

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 *Der stellvertretende Chefredakteur der Braunschweiger Zeitung

verwendete in einem Kommentar den Ausdruck „Babygrinsen“