Nr. 235: Seid still. Lasst ihm den Frieden

 

Liebe Leserin, lieber Leser,

 

heute wollen wir einmal einen Blick in die Arbeitswelt oder konkret in das Herz eines Arbeitnehmers werfen. Wie komme ich darauf?

 

Olaf Scholz hat uns alle mit Blick auf die Rentenfinanzierung gemahnt, länger zu arbeiten. Nachdem die Vorgängerregierung im Geschacher mit der CSU die Mütterrente akzeptierte und dafür die abschlagsfreie Rente ab 63 erhielt, werden die Gesichter der regierenden Genossen immer länger.

 

Diese soziale Wohltat erweist sich als gigantischer Arbeitsplatzräumer. Und das in Zeiten chronischen Personalmangels. Dann – so Olaf gewitzt – müssen eben die noch Verbliebenen länger malochen. Wie kommt das beim Arbeitsmann in unserem Gedicht an? Eher kritisch, würde ich meinen.

 

 

Der alte Arbeitsmann*

 

So müde schwingt er seine Hacke,

der Alte dort im weißen Haar.

Schon löchrig sind ihm Hos´ und Jacke.

Er selbst zählt dreiundsechzig Jahr.

Er trug sein Arbeitskleid mit Stolz,

auch wenn es nun in Fetzen geht.

Sein Mut ist noch aus hartem Holz.

Doch längst ist er nicht mehr Athlet.

 

Ja früher schwang er froh den Hammer.

Er war des Meisters liebster Mann.

Nie lag er krank in seiner Kammer.

Stets er sich seiner Pflicht entsann.

Wo´s galt, die Straßen aufzubrechen,

die Erde um und um zu tun,

da sah man ihn mit seinem Rechen

stets emsig, ohne auszuruhn.

 

Den kargen Lohn gibt er den Kindern.

Die Mutter dankt mit stillem Blick.

Das tut die Qual des Herzens lindern,

dass ihm versagt war Wohlstandsglück.

Doch wenn er dann nach Tages Plagen

die müden Augen schließt zur Ruh,

dann enden seine trüben Klagen.

Bald steht ihm seine Rente zu.

 

Da packt ein Schreck den armen Alten:

Die Rentenkassen wären leer.

Es sei nun amtlich festzuhalten.

Viel länger schuftet man nunmehr.

Er fühlt kaum noch die Schmerzensknochen.

Entsetzen packt den Arbeitsmann.

Sieben lange Jahre noch malochen,

obwohl ich kaum noch kriechen kann?

 

Es war zu viel. Er ist verschieden.

Nun hat die liebe Seele Ruh´.

Seid still. Lasst ihm den Frieden.

Deckt mit dem Leichentuch ihn zu.

Doch ihr, ihr die Gesetzesmacher,

hört meinen Rat, bedenkt ihn gut.

Bewahrt euch beim Gesetzesschacher

den Blick, ob Gutes ihr uns tut.

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*nach Motiven von Adelbert von Chamissos "Die alte Waschfrau" 

 

 

Es wird nicht alles, so heiß gegessen, wie es gekocht wird. Eh die Gesetzesmühle die Vorschläge der Fraktionen zu einem verwendbaren Brei vermahlen hat, fließt noch viel Wasser die Spree herunter. Deshalb erst mal einen Glühwein mit Schuss auf dem Weihnachtsmarkt. Das hilft.

 

Herzlichst

 

Ihr

 

Rainer Sliepen