Nr. 251: Kein Wind in Sicht

 

Liebe Leserin, lieber Leser,

 

die „Publikumsbeschimpfung“ in der Literatur ist spätestens seit Peter Handkes erstem gleichnamigen Sprechstück eine seriöse Auseinandersetzung von Autoren mit ihrem Publikum. Mir gefällt dieser Direktkontakt mit den Lesern. Den Inhalt muss nicht jeder teilen. Aber ich denke, dass, wie bei einer gelungenen Satire, die Wahrheit immer zwischen den Versen hervorschimmert. Also, kennt jemand den einen oder anderen Zeitgenossen, der sich mit dem einen oder anderen Merkmal meines „Portraits“ gut beschreiben lässt?

 

Das Ganze ist wieder im Vorgriff auf meine Lesung am 29. April 2023 im Lessingtheater eine Kontrafaktur oder – populärer - eine lyrische Runderneuerung.

 

Friedrich Adler: (* 13.02.1857, † 02.02.1938)

Das lesende Kind

 

Auf den Schooß das Buch gebreitet,

Scheinst du nichts um dich zu missen,

Starrst hinein, indeß beflissen

Ueber′s Blatt der Finger gleitet.

 

In das Meer der Zeichen leitet 

Dich kein Können noch und Wissen,

Unbeschränkt, in schwanken Rissen

Sich dein junges Sinnen weitet.

 

Süßes Dämmern! Traumumwoben

Schläft das Denken noch im Neste,

Nur das Fühlen schwebt nach oben.

 

Ach, des Lebens trübe Reste

Bleiben, wenn der Flor gehoben –

Das Geheimniß ist das Beste.

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Rainer Sliepen:

Ein Portrait

 

Vor dir die Tüte Chips. Das Bier halbleer.

Der feiste Bauch spannt grell dir dein Textil.

Du liegts – metaphernmäßig – auf dem Kiel

und wartest seit Jahrzehnten auf das Meer.

 

Doch niemand, der mit dir auf Kreuzfahrt geht.

Längst gehen deine Spanten aus dem Leim.

Dein Hafen ist ein trüb möbliertes Heim.

Kein Wind in Sicht, der deine Segel bläht.

 

Vor Anker dämmerst du dem Tod entgegen.

Bald kommen Männer, die dich demontieren.

Den Rest von dir wird man zusammenfegen.

 

Und nun das Fazit. Lasst mich bilanzieren.

Auf dieser Lebensreise lag kein Segen.

Vergebens bleibt mein sprachliches Polieren.*  

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*Alternative 2. Terzett:

 

Der Autor im Sonett soll nun brillieren.

Doch wegen dir wird sich mein Geist nicht regen.

Ich werd´ mich deshalb leise absentieren.

 


Wie bei richtigen Beleidigungen sind Anwesende immer ausgenommen. Also ruhig Blut. Ich wünsche Ihnen für die verkürzte Arbeitswoche ein ausbalanciertes Verhältnis zwischen Pflicht und Freude.

 

Alles Gute wie immer für Sie!

 

Ihr

 

Rainer Sliepen