Nr. 286: Alltäglich Graues in Beton

 

Liebe Leserin, lieber Leser,

 

wer verreist, kann viel Neues erleben. Manchmal gehen angesichts des Erlebten liebevoll gehegte Illusionen in die Binsen. So geschah es auch mir anlässlich einer Städtereise nach Prag. Aber lesen Sie selbst.

 

Bertramka*

 

Es dröhnt. Vielfingrig schlingt sich´s durchs Gelände.

Verschlingt und speit. Dem Moloch gleich, der

unersättlich Opfer fordert und gebiert.

Alltäglich Graues in Beton gegossen.

 

Und doch…

 

Man hastet, eilt nach Nirgendwo.

Die bunte Neugier, das Gewimmel Vieler,

es ist ersetzt durchs Kollektiv, in dem

der Körper fortzueilen scheint der Seele.

 

Und doch vibriert´s…

 

Hotelkomplexe, öde Flächen, unbehaust.

Ein planloses Gewirr von Straßen, Gässchen,

in denen Müll ein Eigenleben führt.

Ein Auto rostet still. Ein alter Ball, vergessen.

 

Und doch vibriert´s im Innern…

 

Kein Stilgefühl, allseits Verfall.

Im Niemandsland hat man sich eingerichtet.

Man lebt im Jetzt. Die Zeit steht still und rast.

Ein Plastiktütchen treibt verloren.

 

Und doch vibriert´s im Innern wie Musik…

 

Und da, ein frohes Lachen, Gläserklingen.

Unwirklich, wirklich tönt´s herüber.

Ein Tor mit spielerischem Schwung gerundet

sprengt auf die kalte Symmetrie der Flächen.

 

Und immer noch ein Hauch Musik…

 

…aus andrer Zeit. Der Genius war hier

und hat den Ort veredelt für glückhaft

flüchtige Momente. So hör die Melodien.

Sie rauschen durch das Laub wie früher.

Ein Hauch von Seligkeit, gebannt für ewig.

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*) Die Villa Bertram (tschechisch Bertramka) ist eine Villa im Prager Stadtteil Smíchov. Heute dient sie als Museum zum Gedenken an Wolfgang Amadeus Mozart. Das Gelände der Villa Bertram befand sich im 18. Jahrhundert in einem ausgesprochenen ländlichen Gebiet außerhalb der Stadtgrenzen Prags.

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Den Tatsachen ins Auge zu blicken, ist manchmal eine schwierige Übung. Hoffentlich finden Sie die Kraft, vermeintlich Bewährtes immer wieder in Frage zu stellen. Das wünscht Ihnen ihr lyrischer Reiseführer

 

Rainer Sliepen